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Fall Tugce: Ändert die Frage der Todesursache etwas am Schuldvorwurf?

Es sind neue Erkenntnisse zur Todesursache von Tugce aufgetaucht. Wie weit hat dies Auswirkung auf die mögliche Strafe und den Haftbefehl?
Laut Medienberichten, unter anderem der FAZ online, die sich auf einen Bild-Bericht bezieht, könnte Tugce möglicherweise nicht unmittelbar durch einen Schlag oder den Aufprall ums Leben gekommen sein, sondern dadurch, dass sich ein Ohrring durch den Sturz in ihren Schädel gebohrt hat. Wie würde dieses Ergebnis, wenn es sich bestätigen sollte, auf die Frage des dringenden Tatverdachts und der strafrechtlichen Verantwortlichkeit auswirken?

Der Todesfall Tugce in der deutschen Justiz

Ein 18-jähriger Beschuldigter sitzt seit dem Vorfall im November 2014 in Untersuchungshaft (U-Haft). In einem Schnellrestaurant soll es zu einem Streit zwischen der später verstorbenen Tugce und dem Beschuldigten gekommen sein. Auf dem Parkplatz des Restaurants eskalierte die Auseinandersetzung ein wenig später und der junge Mann soll auf das Opfer eingeschlagen haben. Bereits nach dem ersten Schlag stürzte Tugce und verstarb einige Tage später im Krankenhaus.
Staatsanwaltschaft und Haftrichter werden sich nun mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob dringender Tatverdacht bezüglich eines Totschlags oder lediglich wegen Körperverletzung mit Todesfolge besteht. Selbst wenn die tödlichen Verletzungen durch den Ohrschmuck entstanden sein sollten, wäre der Tod jedoch wahrscheinlich weiterhin dem Täter zurechenbar. Ein Tötungsvorsatz wäre indes kaum nachzuweisen, da man zugunsten des Beschuldigten nicht von einem harten Schlag wird ausgehen können und er nach dem Schlag nicht weiter auf Tugce eingewirkt hat.
Vorwurf der (vorsätzlichen) Körperverletzung mit (fahrlässiger) Todesfolge gem. § 227 StGB
Als möglicher Straftatbestand kommt die Körperverletzung mit Todesfolge gemäß § 227 StGB in Frage. In diesem Fall muss der Tod lediglich fahrlässig herbeigeführt worden sein. Fahrlässig handelt, wer den Tod als Folge für möglich hält, jedoch darauf vertraut, dass dieser nicht eintreten wird.
Hinzu kommt jedoch, dass der Beschuldigte wahrscheinlich vorsätzlich eine Körperverletzung herbeiführen wollte. Aus diesem Grund würde es sich nicht lediglich um eine fahrlässige Tötung nach § 222 StGB, sondern um eine Körperverletzung mit Todesfolge gem. § 227 StGB handeln.
Während die fahrlässige Tötung mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft wird, droht bei einer gefährlichen Körperverletzung mit Todesfolge ein Strafrahmen zwischen drei und fünfzehn Jahren Freiheitsstrafe.

Kein Totschlag (§ 212 StGB) oder Mord (§ 211 StGB)?

Noch deutlich höheres Strafmaß würde drohen, wenn Totschlag oder gar Mord nachgewiesen würde. Im letzteren Fall würde bei Anwendung des Erwachsenenstrafrechts sogar eine lebenslange Freiheitsstrafe, bei Anwendung von Jugendstrafrecht eine Freiheitsstrafe von bis zu 10 Jahren drohen.
Für diese beiden Delikte müsste der Beschuldigte jedoch vorsätzlich gehandelt haben. Er müsste den Eintritt des Todes also billigend in Kauf genommen haben. Dabei wird die objektive Gefährlichkeit des Handelns von den Gerichten häufig genutzt, um auf den möglichen Vorsatz des Täters zu schließen. Vor allem massive Gewalteinwirkung auf den Kopf einer Person ist regelmäßig ein Indiz für einen möglichen Tötungsvorsatz. Die Rechtsprechung geht jedoch von einer erhöhten Hemmschwelle bei Tötungsdelikten aus. Im Zweifel ist demnach nicht davon auszugehen, dass der Beschuldigte tatsächlich die Hemmschwelle bezüglich des Tötens eines Menschen überschritten hat. Ein Tötungsvorsatz ist in diesen Fällen dann nicht anzunehmen.
Die neuen Erkenntnisse im Fall Tugce würden für die Möglichkeit sprechen, dass der Beschuldigte lediglich mit einem relativ schwachen Schlag die junge Frau traf. Erst durch weitere Umstände, konkret das Eindringen des Ohrringes in den Schädel, kam der Tod zustande. Im Zweifel wird die Staatsanwaltschaft zugunsten des Beschuldigten wahrscheinlich davon ausgehen, dass er lediglich leicht zuschlug und damit ohne Tötungsvorsatz handelte. Eine Verurteilung wegen Totschlags oder Mordes wäre dann nicht mehr wahrscheinlich.

Zu erwartende Strafe bei Anwendung von Jugendstrafrecht

Der Beschuldigte war zur Tatzeit 18 Jahre alt. Er ist somit ein Heranwachsender, für den möglicherweise Jugendstrafrecht Anwendung finden kann. Jugendstrafrecht ist auf Heranwachsende anwendbar, wenn eine jugendtypische Tat oder eine Reifeverzögerung dahingehend vorliegt, dass der Beschuldigte zum Tatzeitpunkt noch einem Jugendlichen gleichstand. Vor allem die Altersnähe des Beschuldigten an der Stufe zum Jugendlichen und das leichtfertige und hitzige hinreißen zu einer körperlichen Auseinandersetzung könnten die Annahme einer Reifeverzögerung begründen. Demnach wird höchstwahrscheinlich Jugendstrafrecht auf den Beschuldigten anzuwenden sein.
Im Jugendstrafrecht gelten dann die üblichen Strafrahmen nicht. Ein Heranwachsender kann im Falle einer Verurteilung wegen Körperverletzung mit Todesfolge eine Jugendstrafe bis zu zehn Jahren erhalten. Das Gericht kann jedoch auch eine deutlich mildere Strafe aussprechen. Denn das Jugendstrafrecht hat das Ziel, die zukünftige Straffreiheit des Verurteilten zu erreichen. Als Mittel bedient sich das Jugendstrafrecht dabei der Erziehung. Es ist somit von einem Täterstrafrecht die Rede. Raum für Vergeltung oder Abschreckung anderer potentieller Täter spielen im Jugendstrafrecht allenfalls eine untergeordnete Rolle.
Für eine Verurteilung zu einer Jugendstrafe müssten entweder schädliche Neigungen beim Beschuldigten oder die Schwere der Schuld festgestellt werden. Bei der Schwere der Schuld kann jedoch nicht lediglich auf die Schwere der Tat abgestellt werden, sondern es fließt vor allem die innere Einstellung des Täters in die Gesamtschau mit ein. Maßgeblich für die Frage der Verurteilung zu einer Jugendstrafe ist somit einerseits das Vorleben des Jugendlichen, andererseits aber auch die weiteren Ermittlungsergebnisse. Sollte der Tod tatsächlich durch Verkettung unglücklicher Umstände entstanden sein, kann es möglicherweise an der Schwere der Schuld fehlen. In diesen Fällen könnten dann Erziehungsmaßnahmen und/oder Zuchtmittel Anwendung finden. Unter Letztere können vor allem Auflagen (Arbeitsauflagen, Zahlung von Geldauflagen, Teilnahme an einem sozialen Trainingskurs usw.) und Jugendarrest bis zu vier Wochen fallen.
Sollte das Gericht sich trotzdem für die Verhängung einer Jugendstrafe aussprechen, wird der Strafrahmen von bis zu zehn Jahren jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht ausgeschöpft. Eine Jugendstrafe kann, genauso wie eine allgemeine Freiheitsstrafe, bis zu einer Höhe von zwei Jahren zur Bewährung ausgesetzt werden. Sollte das Gericht somit zu einer Freiheitsstrafe von nicht mehr als zwei Jahren kommen und dem Beschuldigten eine positive Prognose für die Zukunft ausstellen, wäre eine Jugendstrafe zur Bewährung nicht völlig ausgeschlossen.

Der Beschuldigte hat Antrag auf Haftprüfung gestellt. Wird der Haftbefehl aufgehoben?

Momentan befindet sich der Beschuldigte noch in Untersuchungshaft. Die neuen Ermittlungsergebnisse könnten die Straferwartung des Beschuldigten senken und daher auch eine mögliche Flucht unattraktiver erscheinen lassen. Unter diesen Umständen wäre die Fortsetzung der Untersuchungshaft möglicherweise zumindest unverhältnismäßig.
Der Beschuldigte hat nach Medienberichten Antrag auf Haftprüfung gestellt. Da jedoch weiterhin Jugendstrafe zu erwarten ist, bleibt abzuwarten, ob und inwieweit Staatsanwaltschaft und Gericht der Erwartungshaltung der Bevölkerung Rechnung tragen und ein Zeichen setzen wollen. Der Druck ist bei Verfahren mit großem Öffentlichkeitsinteresse stets ungemein hoch.